Interkultureller Dialog und Spannungsabbau durch musikstilistische Vielfalt: ein Erfahrungsbericht
Von Dr. Vladimir Ivanoff verfasst für https://eunic-berlin.eu (EU National Institutes for Culture)
Seit 2009 betreue ich als künstlerischer Leiter und Dramaturg die Sommerworkshops „Orient meets Occident“. Jährlich treffen sich in der zweiten Augusthälfte zwischen dreißig und sechzig junge MusikerInnen (Studierende an Musikhochschulen und angehende professionelle Musikausübende) aus der arabischen Welt und dem deutschsprachigen Raum zunächst etwa zehn Tage in Bayreuth, um unter der Betreuung verschiedener deutscher und arabischer Dozenten musikalisch und auf privater Ebene miteinander zu kommunizieren. Nach Konzerten in Deutschland werden die gewonnenen Erfahrungen in einer Fortsetzung des Workshops und mit Konzerten in verschiedenen Ländern der arabischen Welt reflektiert und vertieft. Dazu eingeladen, die Inhalte dieser Workshops zu schaffen und in die musikalische Praxis umzusetzen, wurde ich von den verantwortlichen Organisationen, der „Stiftung Podium junger Musiker“ (www.spjm.de) und dem „Festival junger Künstler Bayreuth“ (www.youngartistsbayreuth.com) aufgrund meiner Erfahrung als Gründer und musikalischer Leiter von Ensemble Sarband (www.sarband.de).
Ensemble Sarband
Sarband definiert sich als „interkulturelles Kammerorchester“. Die Programme und CD-Produktionen des Ensembles vereinen MusikerInnen aus den verschiedensten Kulturen und vermitteln zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Alter Musik und lebendigen Traditionen. Sie verbinden die historische Aufführungspraxis Europas mit den lebendigen Traditionen des Mittelmeerraums. In Kooperationen mit anderen KünstlerInnen, Ensembles und Orchestern (u.a. Barocksolisten der Berliner Philharmoniker, Modern String Quartet, Sidi Larbi Cherkaoui, RIAS Kammerchor, Chorus Sine Nomine, King’s Singers, Concerto Köln, Mystère des Voix Bulgares) werden Differenzen zwischen Kulturen und Religionen, zwischen Alt und Neu ausgelotet, historische und zeitgenössische Konzepte des Anderen und Fremden hinterfragt. Die Zusammenarbeit innerhalb des Ensembles ist kontinuierlich angelegt und ein gleichberechtigter Dialog. Stehen heute meist die religiösen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Differenzen zwischen Orient und Okzident im Vordergrund, so will Sarband zeigen, dass Musik nicht nur Dekor, sondern weltoffenes Medium gegenseitigen Respekts war und auch heute noch sein kann.
Die Möglichkeit friedlicher Beziehungen zwischen Orient und Okzident, zwischen den Religionen, sind im gegenwärtigen internationalen Kulturbetrieb ein Gemeinplatz geworden. Zahlreiche Projekte versuchen, die Botschaft zu vermitteln, dass Orient und Okzident zusammengehören und dass die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Religionen möglich ist. Sie zeigen jedoch keine Wege auf, wie diese Ziele erreicht werden könnten. Ensemble Sarband verdeutlicht mit seinen Programmen, wie wichtig die Vergangenheit für die Zukunft ist: Die Geschichte erweist, dass religiöse, kulturelle und politische Konflikte tatsächlich immer wieder gelöst wurden, aber stets durch das persönliche Engagement von Menschen und ihre Toleranz gegenüber menschlicher Vielfalt. Die vielfältigen Erfahrungen in interkultureller Musikvermittlung zwischen den beteiligten KünstlerInnen sowie zwischen dem Ensemble und seinem globalen Publikum, die ich in den vergangenen 27 Jahren des Bestehens von Sarband sammeln konnte, fließen auch in die Arbeit innerhalb der „Orient meets Occident“ Workshops ein und bestimmen deren Inhalte und Struktur.
2009: Die Arabische Passion nach J. S. Bach
Bonner Abschlusskonzert und Impressionen aus der Arbeit im Workshop:
http://www.youtube.com/watch?v=FgmXfEmq_Eg&feature=share&list=PLA57759EE88C7769A
Im ersten Workshop von „Orient meets Occident“ wurde die Musik von J.S. Bach neu gefasst, ihr barocker Geist in den lebendigen Traditionen der arabischen Musik und des Jazz neu interpretiert; etwa fünfzig deutsche, irakische, libanesische, palästinensische und syrische MusikerInnen begegneten einander in der Musik Bachs. Seine Passionsmusiken wurden konfrontiert mit der heutigen Situation in der Heimat von Jesus, aber auch mit den Konflikten zwischen der arabischen Welt und dem Westen. Die barocke Präzision und Komplexität Bachs begegnete der Spontaneität von klassischer arabischer Musik und Jazz: zwei Traditionen, die viel gemeinsam haben, zum Beispiel hoch entwickelte und strukturierte Improvisationstechniken; aber auch zwei Stimmen, die verschiedener nicht sein könnten. Das gemeinsame Musizieren und die begleitenden Diskurse schufen einen intensiven und kontemplativen Raum für gegenseitigen Respekt. Das dabei entstandene Programm wurde mit Konzerten in Bayreuth und Bonn (Ende August 2009), Damaskus und Beirut (November 2009) einem internationalen Publikum vorgestellt.
2010: Wege zu Parsifal: Auf der Suche nach dem heiligen Gral in der Musik zwischen Orient und Okzident.
Zusammenfassender Videoclip: http://youtu.be/pOWr8q44PrA
Etwa sechzig MusikerInnen aus Deutschland, Jemen, Libanon, Österreich, Marokko, Palästina, und Syrien begaben sich in Bayreuth auf die Spurensuche nach dem Parsifal-Mythos, seinen jüdisch-arabischen Wurzeln und seiner musikalischen Rezeption vom Mittelalter bis zu Richard Wagners „Parsifal“.
2011: Zwei Welten? Eine Musik?
Trailer der SPJM: www.spjm.de/konzerte/orient_occident_2011/trailer_2011/
Arabische klassische Musik, das klangliche Symbol für die weit zurückliegende „goldene Vergangenheit“ der arabischen Welt sowie Jazz und Pop, die etablierten Klangikonen der westlichen Moderne: die Gemeinsamkeiten dieser Musiksprachen gaben den vierzig TeilnehmerInnen aus Ägypten, Tunesien und Deutschland die Möglichkeit zu kommunizieren; ihre grundsätzlichen Unterschiede schufen eine hohe kreative Spannung.
2012: Wurzeln in der ZukunftBeitrag der Deutschen Welle: http://www.spjm.de/konzerte/orient_occident_2012/video_2012/
Dieser
Workshop mit dreißig TeilnehmerInnen aus Deutschland, Palästina und Tunesien
setzte sich mit der Bedeutung von traditioneller arabischer Musik, arabischem
und westlichem Jazz und westlicher klassischer Musik für den „Arabischen
Frühling“ auseinander. Nach einem Abschlusskonzert Ende August in Bayreuth
wurde er zwei Wochen in Tunesien fortgesetzt und von Konzerten in Hammamet, El
Djem und Tunis begleitet.
Stilistische Vielfalt als Grundlage interkultureller Kommunikation und Werkzeug der Konfliktbewältigung
Wie die vorangehenden Beschreibungen deutlich machen, unterscheidet sich die Konzeption der „Orient meets Occident“ Workshops vor allem in einer Hinsicht von den inzwischen zahlreichen musikalischen Orient-Okzident-Projekten mit interkulturellen pädagogischen Anliegen: So intensiviert Daniel Barenboim mit seinem vielbeachteten „West-Eastern Divan Orchestra“ (http://www.west-eastern-divan.org/) den arabisch-israelischen Dialog dadurch, dass arabische und israelische junge MusikerInnen gemeinsam ausschließlich westliches klassisches Repertoire musizieren. Nahöstliche KünstlerInnen begegnen sich im etablierten europäischen Kulturrepertoire, in der Musik Beethovens und Mozarts. „Orient meets Occident“ setzt dagegen bewusst auf stilistische Vielfalt: Westliches klassisches Repertoire wird mit auf Improvisation basierenden Stilen wie Jazz (in europäischer und arabischer Ausprägung) konfrontiert, europäische Alte Musik aus Mittelalter, Renaissance und Barock mit traditioneller arabischer Musik in ihren regionalen Ausprägungen verglichen, Neue Musik aus der arabischen Welt wird gleichberechtigt mit der europäischen Avantgarde behandelt. Eine bunte Kette aus vielfältigen musikalischen Stilen dient dazu, den TeilnehmerInnen der Workshops die Spannungspole Orient und Okzident, Tradition und (Post-)Moderne, Heimat und Fremde bewusst zu machen und sie darin zu schulen, vorgefertigte Bilder davon zu hinterfragen.
Ich verstehe dabei den Begriff „interkulturell“ musikalisch in einem relativ weiten Sinn, denn die allgemein verbreitete Aussage, dass Musik eine global verständliche Weltsprache sein kann, ist in der realen Musikwelt nur sehr begrenzt gültig. Unterschiedliche musikalische Traditionen und Stile besitzen ihre sehr spezifischen Kommunikations- und Organisationsstrukturen. So hätte z. B. ein deutscher Musiker, der überwiegend im Bereich der klassischen Kammermusik tätig ist, bereits große Schwierigkeiten, die musikalische Kommunikation innerhalb eines Orchesters zu durchschauen. JazzmusikerInnen und klassische MusikerInnen musizieren nicht nur in gänzlich unterschiedlichen musikalischen Sprachen; auch ihre verbale Kommunikation ist letztlich ein „Fachchinesisch“, welches außerhalb des jeweiligen spezifischen Berufskreises kaum verständlich ist. Die Erfahrungen meiner Arbeit zeigten dagegen, dass MusikerInnen aus der arabischen Welt und aus Europa, die einen ähnlichen musikalischen Hintergrund teilen (z.B. auf Jazz spezialisiert sind), relativ leicht und ohne Hemmungen miteinander kommunizieren, denn sie sprechen eine gemeinsame musikalische Sprache. Dagegen haben MusikerInnen aus dem gleichen Land, die unterschiedliche künstlerische Hintergründe haben, oft große Kommunikationsprobleme. Das betrifft z. B. bereits das Zusammenspiel und die verbale Kommunikation zwischen Barockspezialisten und Mitgliedern herkömmlicher westlich-klassischer Orchester.
Hinter dieser Hemmschwelle verbirgt sich aber auch eine große Chance, denn MusikerInnen definieren sich meist zunächst über ihren musikalischen Hintergrund. Deshalb haben in der musikalischen und verbalen Kommunikation mit „Gleichgesinnten“ andere, z.B. politische und religiöse Differenzen zunächst keine Priorität. Das genuine Interesse, gemeinsam Musik zu schaffen, ist zunächst meist drängender als das Bedürfnis nach Ab- und Ausgrenzung. Auch wenn Differenzen später verbalisiert werden, entschärft das Interesse an der gemeinsamen Musik fast immer den Konflikt, auch wenn es „nur“ darum geht, das musikalische Zusammenspiel nicht zu gefährden. Auch wenn MusikerInnen eine neue und gänzlich fremde Stilistik kennen lernen wollen (z.B. bei der Einführung von JazzmusikerInnen in die traditionelle arabische Musik), steht die Neugier an der neuen Musiksprache im Vordergrund und wirkt deeskalierend auf potentielle Konfliktthemen.
Europäische Nationen besitzen historisch gewachsene (musik-)kulturelle Identitäten: Italiener mit Vorlieben für die klassische Musik sind stolz auf Vivaldi oder Verdi, Franzosen auf Lully oder Berlioz, Deutsche auf Mozart oder Wagner. Traditionelle Musik ist im Europa der Moderne zwar in den Hintergrund getreten, regionale Volksmusikstile sind dennoch in fast allen europäischen Ländern noch lebendig und haben ihren Liebhaberkreis. Die europäische Klassik, ihre Klangkörper und Stars stiften eine gesamteuropäische und gleichzeitig globale Identität: Cecilia Bartoli ist Italienerin, singt europäische Klassik und wirkt als Weltstar.
Jazz, Pop und Rock sind global verbreitete Musikstile, haben aber in den westlichen Kulturen allgemein bekannte Wurzeln: die Beatles sind eine Klangikone der Engländer, Xavier Naidoo einer der großen deutschen Popstars (ohne wegen seines „Migrationshintergrundes“ hinterfragt zu werden), Lady Gaga ist ein (italo-)amerikanischer Superstar mit globaler Wirkung und Bekanntheit.
Nationale und kulturelle Identität:
musikalisches Selbstbewußtsein als Mittel der Konfliktbewältigung
Doch wer kennt Oum Kalthoum, Asmahan, Farid al-Atrash und Fairouz? Sie sind die (bis auf Fairouz bereits verstorbenen) letzten VertreterInnen einer zwar popularisierten, aber in den Wurzeln traditionellen panarabischen Musikkultur, die zumindest bei älteren Ägyptern, Libanesen, Syrern und Irakern gleichermaßen bekannt und beliebt sind, ihre große Wirkung jedoch in den 40er bis in die frühen 70er Jahre des letzten Jahrhunderts hatten. Der westliche Kolonialismus propagierte arabische Nationalstaaten und raubte der arabischen Welt ihre kulturelle Einheit und damit auch in großem Ausmaß ihre überregionale klassische Musikkultur. Seit Jahrzehnten nehmen klassische Musik westlicher Prägung und globalisierte Popmusik in der arabischen Welt die fast ausschließliche „Leitkulturfunktion“ ein. Die Ausbildung an Musikhochschulen bevorzugt hierarchisch die westliche Klassik und inzwischen auch den Jazz; fast jeder arabische Ölstaat gründete inzwischen sein eigenes Sinfonieorchester westlicher Prägung und errichtete dementsprechende Konzertsäle und Opernhäuser. Überwiegend unbewusst transferieren damit kulturpolitisch Verantwortliche und Kulturschaffende wie auch ihre Rezipienten vermeintliche „assets“ aus dem Kulturbereich in die zivilisatorische Planung und Politik.
Ich hatte als Moderator einer Gesprächsrunde im deutschen Rundfunk (WDR 3 – „Musikpassagen“, live vom Beethovenfest am 01.10.2011) die Gelegenheit, mit einigen der MusikerInnen des „National Youth Orchestra of Iraq“ über ihre Wertvorstellungen und ihre Zukunftsträume zu sprechen. Das Orchester arbeitet nach dem Modell von Daniel Barenboims „West-Eastern Divan“: junge Iraker – Kurden, Schiiten und Sunniten – musizieren gemeinsam klassisches westliches Repertoire, daneben auch einige Kompositionen zeitgenössischer irakischer Komponisten. Intendiert ist eine Deeskalation von Konflikten zwischen verschiedenen irakischen Bevölkerungsgruppen, unter dem Leitstern westlicher Klassik. Welche große Hoffnung die jungen MusikerInnen in das Vorbild westlicher klassischer Musik projizieren, wurde in diesem Gespräch sehr deutlich. Verkürzt zusammengefasst: Bach, Mozart, Haydn, Beethoven spenden Trost in einem trostlosen Alltag; ihre Musik hat für die jungen MusikerInnen und wohl auch für einen Teil ihrer Hörer einen herausragenden Wert, den sie mit zivilisatorischem Fortschritt, politischer Öffnung, auch in den Westen, und auch einer erstrebenswerten Demokratisierung verknüpfen.
Ähnliche
Hoffnungen hegten auch die meisten TeilnehmerInnen der „Orient meets Occident“
Workshops, wenn sie klassisch-westlich ausgebildet waren. Die jungen arabischen
MusikerInnen betrachten (vor allem seit Beginn des „Arabischen Frühlings“) Pop-
und Jazzmusik – in globaler und in regional arabischer Ausformung – als Medien
für Freiheit und Fortschritt, als „Zukunftsmusik“ für die neue politische und
kulturelle Ordnung in der arabischen Welt.
Im Gegenzug steht traditionelle arabische Musik bei arabischen MusikerInnen, die in der westlichen Tradition ausgebildet wurden und bei ihren KollegInnen aus Jazz und Pop fast immer für Überkommenes, Rückschrittlichkeit, sogar für religiösen Fundamentalismus. Diese einstimmige Tradition ist für sie „primitiver“ als die mehrstimmge westliche Klassik. Sie wird z.B. im Falle des tunesischen Malouf als ein staatstragendes (weil touristisch wirkungsvolles) Medium der alten politischen Ordnung eingestuft.
Die Geringschätzung und Abwertung eigener musikalischer (und im weiteren Sinne kultureller) Traditionen ist die Wurzel der häufigsten Konflikte in meinem Ensemble und in den „Orient meets Occident“ Workshops. Die traditionell-nahöstlich ausgebildeten MusikerInnen stehen, verursacht durch ein mangelndes Selbstvertrauen in den eigenen musikalischen Hintergrund, unter einem großen Behauptungsdruck. Sie sind zunächst in der Vermittlung ihrer musikalischen Inhalte an die anderen MusikerInnen weniger offen, grenzen sich selbst zunächst auch in der verbalen Kommunikation häufig aus. Wenn VertreterInnen regionaler Ausformungen (Syrer, Ägypter, Libanesen usw.) traditioneller arabischer Klassik miteinander musizieren, kommt es häufig schnell zu Streitigkeiten. Die jeweilige nationale Aussprache hocharabischer Liedtexte wird als „die einzige korrekte“ propagiert; musikalische Details, die sich unterscheiden, wie z.B. Intonationsfärbungen und Verzierungen sind jeweils nur in der syrischen, libanesischen, ägyptischen usw. Spielweise „korrekt“. So stehen sich die MusikerInnen aus unterschiedlichen arabischen Ländern häufig musikalisch unversöhnlich gegenüber. Deshalb schlug ein deutscher Workshop-Teilnehmer 2010 vor, „Orient meets Occident“ in „Oriental Accident“ umzubenennen.
Hier sehe ich eine der wichtigsten Aufgaben dieser und ähnlicher musikalischen Treffen, denn sehr schnell nehmen die traditionellen arabischen MusikerInnen die Wertschätzung ihrer Musik durch KollegInnen und Publikum wahr. Die europäischen TeilnehmerInnen sind meist sehr interessiert daran, diese für sie zunächst fremde aber faszinierende Musikwelt näher kennen zu lernen. Sie erfahren, dass es sich dabei um eine gleichermaßen alte wie lebendige, sehr komplexe und immer weiter entwicklungsfähige Tradition handelt, die der westlichen klassischen Tradition ebenbürtig ist. Arabische KollegInnen mit westlichem musikalischem Hintergrund (ob klassisch oder in Jazz und Pop), die bis zur Konfrontation mit der regionalen musikalischen Tradition ihrer Heimat kaum Hörerfahrung damit hatten, sie aber fast immer als minderwertig einschätzten, gewinnen zumindest Achtung dafür. In manchen Fällen stellt sich sogar heraus, dass ein klassisch-westlich ausgebildeter Musiker auch Erfahrungen in traditioneller Musik hatte, sie jedoch zunächst verschämt verschwieg. In den Konzerten von Ensemble Sarband und des Workshops wird die arabische traditionelle Musik gerade vom westlichen Publikum oft begeistert aufgenommen, behauptet sich eigenständig gegen jedes westliche Repertoire und wird vor allem wegen des lebendigen Vortragsstils manchmal auch diesem vorgezogen. Bei Konzerten in arabischen Ländern ist das Publikum häufig zunächst der eigenen Tradition gegenüber misstrauisch: schließlich handelt es sich meist um die soziale, die westliche Kultur bevorzugende Elite, die den Weg in Konzertsäle findet. Nach den Konzerten erlebe ich dann überrascht-stolze Erleichterung darüber, dass sich genuin arabisches Repertoire gegen westliches Repertoire behaupten konnte. Die positive Rezeption durch KollegInnen und Publikum lässt bei den traditionellen MusikerInnen Stolz und Selbstvertrauen entstehen.
Ein gesundes Selbstvertrauen und das Bewusstsein dafür, dass arabische Musiktraditionen und damit auch die arabische Kultur im weiteren Sinne weltweit positiv rezipiert und geachtet werden können, und trotz der Vielfalt regionaler Färbungen eine grundlegende panarabische Einheit bilden, hat weitreichende Folgen. Denn daraus kann eine selbstbewusste arabische, staaten- und religionsübergreifende Identität entstehen, welche die vielfältigen Spannungen innerhalb des arabischen Staatengefüges deeskalieren hilft und eine gelassenere Kommunikation mit dem Westen erlaubt, denn Partner, die ihre eigene Identität kennen, können in Augenhöhe miteinander sprechen.
Auch den westlichen MusikerInnen wird, wie dem westlichen Publikum, eine „gleichberechtigtere“ Einschätzung arabischer Kultur jenseits von billig produziertem Arabesk-Pop, der aus europäischen Döner-Buden tönt, erleichtert. Zuerst erleben die MusikerInnen, später in Konzerten und durch Aufzeichnungen auch das Publikum, das Zusammenspiel gleichberechtigter Partner aus Orient und Okzident, erfahren, dass verschiedene Musikstile und Traditionen gleichwertige Qualitäten haben, auch wenn die Tonsprachen ganz unterschiedlich sind. Sie erleben KünstlerInnen aus „Krisenländern“ jenseits des täglichen „body counts“ der Medien als Persönlichkeiten, die sich selbständig ausdrücken können und den Willen und die Fähigkeit zur Kommunikation besitzen.
Ausblick
Hier sehe ich die Chancen europäischer Kulturförderung: ein tatsächlich vielstimmiges Orchester mit jungen MusikerInnen aus europäischen und nahöstlichen Nationen, in dem ein gleichberechtigter Diskurs ohne das Diktat europäischer bzw. arabischer Leitkultur möglich ist. Dieses künstlerische und pädagogische Modell lässt sich auch auf andere aktuell konfliktbeladene Regionen, z. B. den Balkan und Osteuropa, übertragen. Mit einem verhältnismäßig geringen finanziellen und organisatorischen Aufwand seitens der internationalen Kulturförderung entstände ein lebendiges und weitreichendes Medium, welches dazu fähig ist, viele Ohren und Herzen zu erreichen, die gegenüber anderen Stimmen vielleicht taub bleiben.